Forschung: Arznei im Grundwasser tötet Insekten

Das große Insektensterben

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Aschgraue Höckereule (Trichplusia ni); Foto: Wikipedia

Landwirtschaft wird konventionell zwecks Ertragssteigerung heute noch zu oft unter Mithilfe chemischer Gifte betrieben: Herbizide (Unkrautvernichtungsmittel), Fungizide (Mittel gegen verschiedene Pilzarten) oder auch Insektizide (Gifte gegen Insektenfraß). Dies hat fatale Folgen, denn ein Großteil dieser Gifte versickert im Boden und gelangt mit dem Grundwasser in Flüsse, Seen und Meer und reichert sich in Pflanzen und anderen Gliedern der Nahrungskette an. Weitere Gifte aus Arzneimitteln gelangen zusätzlich ebenso ins Grundwasser.

Abstrakt:

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Die Forschung hat es jetzt bewiesen: Arzneimittelrückstände wie Antibiotika und Hormone im Wasser gefährden auch Insekten. So nehmen Schmetterlinge wie die in Nordamerika und Eurasien verbreitete Aschgraue Höckereule (Trichplusia ni) Medikamente über Futterpflanzen auf, was ihre Entwicklung verzögert und ihre Lebensspanne verkürzt. Dies berichten Umweltbiologen der Universität von Kalifornien (USA) im Fachmagazin PNAS. Durch den weltweit wachsenden Bedarf an Wasser setzt die Landwirtschaft zunehmend auf wieder aufbereitetes Abwasser, das oft Rückstände von Arzneimitteln enthalte. Unklar sei aber noch, ob dadurch auch andere Insekten geschädigt werden.

Bild Insektenlarve

Viele Länder nutzen aufbereitetes Abwasser für die Landwirtschaft, weil Dürre, steigende Temperaturen und wachsende menschliche Bevölkerung den Wasserbedarf erhöhen. Leider enthält Abwasser oft biologisch aktive, pseudo-persistente Arzneimittel, selbst nach der Behandlung. Abflüsse aus landwirtschaftlichen Betrieben und Erträge von Kläranlagen tragen ebenfalls zu hohen Konzentrationen von Pharmazeutika in der Umwelt bei. Diese Studie untersuchte die Auswirkungen von herkömmlichen Arzneimitteln auf einen landwirtschaftlichen Schädling, Trichoplusia ni (Lepidoptera: Noctuidae). Die Larven wurden auf künstlicher Nahrung gezüchtet, die mit kontaminierenden Substanzen (CECs) bei umweltrelevanten Konzentrationen versetzt wurden. Trichoplusia ni zeigte eine erhöhte Entwicklungszeit und Mortalität, wenn sie mit künstlichen Diäten, die Antibiotika, Hormone oder eine Mischung von Kontaminanten enthielten, aufgezogen wurde. Die Mortalität war auch erhöht, wenn T. ni auf hydroponisch gezüchteten Tomaten mit den gleichen Antibiotikakonzentrationen gezüchtet wurde. Die Antibiotika-behandelten Pflanzen translozierten Ciprofloxacin durch ihre Gewebe zu Wurzeln, Sprossen und Blättern. Die mikrobiellen Gemeinschaften von T. ni veränderten sich wesentlich zwischen Entwicklungsstadien und wenn sie CECs in ihrer Ernährung ausgesetzt waren. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die Verwendung von aufbereitetem Abwasser zur Bewässerung von Nutzpflanzen die Entwicklungsbiologie und die mikrobiellen Gemeinschaften eines Insekts von landwirtschaftlicher Bedeutung beeinflussen kann.

Bedeutung:

Steigende Temperaturen, Trockenheit und wachsende menschliche Bevölkerung erhöhen die Nachfrage nach aufbereitetem Abwasser für landwirtschaftliche Zwecke. Abwasser enthält jedoch oft biologisch aktive, pseudo-persistente Arzneimittel, selbst nach dem Durchgang durch eine Wasseraufbereitungsanlage. Wir stellten fest, dass die Biologie, Lebensgeschichten und mikrobiellen Gemeinschaften eines landwirtschaftlichen Schädlingsinsekts verändert wurden, wenn sie auf künstlichen Diäten oder Pflanzen, die mit diesen Chemikalien bewässert wurden, aufgezogen wurden. In dieser Studie wurde gezeigt, dass Arzneimittel, die durch Pflanzen transportiert werden, die Biologie eines landwirtschaftlich wichtigen Insekts negativ beeinflussen. Die Reaktionen auf diese Arzneimittel könnten Auswirkungen auf die Integration von Schädlingsbekämpfungsmethoden und auf das Verständnis der Auswirkungen von wiedergewonnenem Wasser auf Agrarökosysteme haben, die für die Nachhaltigkeit unserer Nahrungsmittelversorgung entscheidend sind.

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Trichplusia ni – Larve; Foto: Phil Bendle

Quelle: PNAS

Ohne Insekten bricht alles zusammen

BEI DER ERHEBUNGEN IN 63 DEUTSCHEN SCHUTZGEBIETEN ZWISCHEN 1989 UND 2016 IST EIN RÜCKGANG VON 76 PROZENT (IM HOCHSOMMER BIS ZU 82 PROZENT) DER FLUGINSEKTEN-BIOMASSE FESTGESTELLT WORDEN.

ZEIT-ONLINE SCHREIBT DAZU AM 20. OKTOBER 2017:

„Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Schicksal des Landes und dem Schicksal der Menschen“, schrieb der amerikanische Farmer und Dichter Wendell Berry. „Wird eines misshandelt, leidet auch das andere.“ Neue Studien zeigen nun, wie sehr wir unser Land misshandeln, vor allem seine sechsbeinigen Bewohner, die Insekten. Die Ergebnisse sind eindeutig – und eine Warnung an uns alle.

Naturschutzgebiet in der Falle
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Viele der untersuchten Areale waren naturnahe Inseln in einem rein landwirtschaftlichen Umfeld. Hier liegt wahrscheinlich die Ursache für den Insektenschwund. Foto: Entomologischer Verein Krefeld / Radboud University

27 Jahre lang wurden in 63 deutschen Naturschutzgebieten fliegende Insekten in speziellen Fallen gefangen und gewogen (Plos One: Hallmann et al., 2017). Die Ergebnisse belegen, dass wir seit 1989 über drei Viertel der Insektenmasse verloren haben. Die Forscher um Hans de Kroon und Caspar Hallmann von der Universität Nijmegen sprechen von einem „Weckruf“. Sie gehen davon aus, dass Ähnliches auch in anderen kleinen Naturschutzgebieten in Europa und darüber hinaus geschehen ist, und zwar in solchen, die von landwirtschaftlichen Flächen eingeschlossen sind. Denn wie winzige Inseln in einem immer eintöniger werdenden Meer aus Ackerflächen sind viele unserer Naturschutzgebiete nicht nur völlig von anderen Naturgebieten isoliert, sondern auch so klein, dass ihre Bewohner unvermeidlich von der stetig steigenden Flut an Pestiziden in Mitleidenschaft gezogen werden.

„Pestizide spielen mit Sicherheit eine ganz große Rolle. Wir können davon ausgehen, dass es besonders bei kleinen Naturschutzgebieten durch Verfrachtung über die Luft zu einer Kontamination der Fläche kommt“, sagte Jan Christian Habel vom Lehrstuhl für Terrestrische Ökologie der TU München kürzlich dem ZDF-Magazin Frontal 21. Dass wir große Mengen Chemikalien einsetzen, um die Erträge der Felder zu optimieren, halten viele Experten für einen der Hauptgründe hinter dem Insektenrückgang (Science: Dicks et al., 2016). In der Verantwortung stehen deshalb nicht nur die Landwirte selbst, sondern auch und vor allem die Agrarpolitiker, die landwirtschaftlichen Interessenvertreter und wir Verbraucher durch unser Einkaufsverhalten.

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Die Blutbiene (Sphecodes albilabris) gilt als stark gefährdet. Foto: Entomologischer Verein Krefeld

Wozu brauchen wir Insekten?

Insekten sind die artenreichste Tiergruppe. Sie bilden das Fundament eines gesunden Ökosystems. Sie sind nicht nur die wichtigsten Pflanzenbestäuber, sondern regulieren auch Schädlinge und dienen zahlreichen anderen Arten als Futter. Weniger Insekten bedeutet deshalb weniger Fische, Frösche, Eidechsen, Vögel und Säugetiere. Wenn das Fundament wegbricht, wie es die neue Studie nahelegt, dann droht das ganze Gebäude – unser gesamtes Ökosystem – einzustürzen. Wie Alexander von Humboldt schon vor über 200 Jahren feststellte, ist alles in der Natur durch unsichtbare Bande verknüpft: Fehlen einzelne Arten, wirkt sich das auf andere Tier- und Pflanzenarten aus; und vom Gedeihen der Pflanzen hängen wiederum auch Wetter und Klima ab. Wenn wir unserem Ökosystem drei Viertel des Fundaments wegschlagen, ist das ein massiver Eingriff in die Naturordnung.

Die in der aktuellen Studie untersuchten Fluginsekten, also Bienen, Wespen, Käfer, Motten und Fliegen aller Couleur, sind besonders nützlich, denn sie stellen die Armee der Bestäuber. Von dieser wilden, summenden und brummenden Fliegertruppe wird ein Großteil der weltweiten Bestäubungsleistung erbracht. Das gilt vor allem für die mehr als 20.000 Arten von Wildbienen. Rund 570 Arten davon gab es mal in Deutschland, 39 sind in den vergangenen Jahrzehnten bereits ausgestorben. Der Wert der Bestäubung landwirtschaftlicher Nutzpflanzen durch Insekten wird weltweit jährlich auf dreistellige Milliardenbeträge beziffert (Ecological Economics: Gallai et al., 2009). Ob Kirschen, Äpfel, Mandeln, Tomaten, Kürbisse oder Erdbeeren: Ohne tierische Bestäuber nehmen die Erntemengen und die Qualität der Feldfrüchte drastisch ab.

Und nicht zu vergessen: Viele Pflanzenarten sind von spezialisierten Bestäuberinsekten abhängig, die sich im Laufe der Evolution parallel mit ihnen entwickelt haben. Und die genetische Vielfalt der Pflanzen sichert die Landwirtschaft und damit unsere Nahrungsgrundlage gegen kommende klimatische Veränderungen und andere Herausforderungen, wie Schädlinge, ab.

Schon im November 2016 erschien im Fachmagazin Science ein Artikel, in dem Insektenforscher aus fünf Kontinenten eindringlich vor dem Verlust der Bestäuberinsekten warnen und zehn konkrete Maßnahmen zu ihrem Schutz vorschlagen (Dicks et al., 2016). Dazu zählen strengere Regeln für den Einsatz von Pestiziden und die Förderung landwirtschaftlicher Vielfalt wie Biolandbau, Mischkulturen, private und urbane Gärten, Agrarforstwirtschaft und Kreislaufwirtschaft. Daneben fordern die Forscher eine verstärkte wissenschaftliche Beobachtung der Bestäuber und die Förderung des integrierten Pflanzenschutzes, also eines lokal angepassten ganzheitlichen Konzeptes zur Minimierung des Pestizideinsatzes.

Besteht weiterer Forschungsbedarf? Ja, natürlich sind noch Fragen offen und Zusammenhänge zu klären, aber es ist keinesfalls so, dass wir nicht wüssten, wo die Probleme liegen und wie wir sie anpacken können. Vor allem für Nordwesteuropa und Nordamerika ist der massive Schwund der Bestäuber durch zahlreiche Studien gut belegt.

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Insekten sind die Grundlage unseres Ökosystems. Und sie sterben in Scharen. Foto: Manlake Gabriel/unsplash.com

Das Verschwinden ist eine nachdrückliche Warnung

Zusätzlich zu einem Wandel in der Landwirtschaft sollten wir Schutzgebiete ausweiten und bestehende Biotope besser vernetzen. Ein wichtiger Baustein dabei ist das europäische Schutzgebietsnetzwerk Natura 2000. Dessen Umsetzung und Finanzierung muss nach Einschätzung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses aber dringend verbessert werden.
Wann haben Sie zuletzt einen Schwalbenschwanz über eine Wiese tanzen sehen, einen Pirol in einem Auwald singen hören oder eine in der Sonne dösende Kreuzotter beobachtet? Dieser Reichtum der Natur ist die Grundlage unseres Wohlergehens. Das Verschwinden der Insekten ist eine nachdrückliche Warnung. Wir dürfen sie nicht in den Wind schlagen.

Von Gunther Willinger
Quelle: Zeit-Online
weitere Quellen: Spektrum.de Süddeutsche Zeitung

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